Der Pippi-Langstrumpf-Move: Wenn die Mächtigen sich die Welt widdewidde machen, wie sie ihnen gefällt

Über die Nominierung Donald Trumps für den Friedensnobelpreis und den organisierten Verlust der Wirklichkeit.

Ein kriegstreibender Premierminister, Benjamin Netanyahu, nominiert einen menschenfeindlichen und autokratisch agierenden Präsidenten, Donald Trump, für den Friedensnobelpreis. Wer bei dieser Nachricht nicht zumindest für einen Moment an der Welt zweifelt, hat sich vielleicht schon an den Lärm des Absurden gewöhnt. Der oft zitierte Satz, die Welt sei „aus den Fugen geraten“, klingt hier nicht mehr wie eine dramatische Zuspitzung, sondern wie eine maßlose Untertreibung. Diese Nominierung ist kein politischer Ausrutscher. Sie ist ein Symptom, das tief blicken lässt – in das Herz einer Zeit, die man als das Pippi-Langstrumpf-Zeitalter bezeichnen könnte: „Ich mach' mir die Welt, widdewidde wie sie mir gefällt.“

Von der Kontingenz zur Willkür: Die Erfindung der Wirklichkeit

Diese Haltung ist die Chiffre für einen grenzenlosen Relativismus, der die Grundpfeiler des vernünftigen Gesprächs erodiert. Natürlich haben Philosophen von Nietzsche bis Foucault uns gelehrt, dass Wahrheit und Sprache keine Abbilder einer objektiven Realität sind, sondern von Deutungen, Macht und historischen Kontexten abhängen. Die Welt ist kontingent. Das bedeutet aber nicht, dass sie beliebig ist. Kontingenz meint: möglich, nicht notwendig, aber auch nicht zufällig. In vernünftigen Zeiten kann man nicht mit derselben Überzeugungskraft behaupten, Elefanten seien rosa. Doch genau das geschieht.

Wir erleben eine Pervertierung der postmodernen Einsicht: Aus der Anerkennung von Multiperspektivität wird die willkürliche Setzung von „alternativen Fakten“. Kriege werden zu „Friedensmissionen“, ethnische Säuberungen zur „Katharsis“ und das Anbiedern an Autokraten, wie es NATO-Generalsekretär Rutte bei Trump praktiziert, zur diplomatischen Notwendigkeit. Die Sprache wird nicht mehr zur Beschreibung der Welt genutzt, sondern zu ihrer Erschaffung – und zwar nach dem Geschmack der Mächtigen.

Das Spektakel der Gleichgültigkeit: Warum wir nur noch zusehen

Woher kommt die lähmende Stille, die diese Akte des Wahnsinns begleitet? Viele ziehen sich zurück, beobachten das Geschehen aus der Ferne, aus den letzten Reihen eines Amphitheaters. Dieses Gefühl, einem Spektakel beizuwohnen, ist zentral. Der französische Philosoph Guy Debord sprach bereits in den 1960er Jahren von der „Gesellschaft des Spektakels“, in der das authentische soziale Leben durch seine Repräsentation ersetzt wird. Was wir erleben, ist nicht mehr die direkte Wirklichkeit, sondern ein ununterbrochener Strom von Bildern und Inszenierungen. Die Realität wird wie eine Netflixserie wahrgenommen.

Wir sind durch die virtuelle Welt so sehr auf Distanz trainiert, dass wir diese unbewusst auf die reale Welt übertragen. Der Horror der Nachrichten aus Gaza oder der Ukraine erreicht uns wie das Drehbuch einer düsteren Serie – schrecklich, ja, aber letztlich hinter einem Bildschirm, der uns schützt. Der Philosoph Jean Baudrillard nannte diesen Zustand „hyperreal“: Die Simulation der Wirklichkeit wird für uns wirklicher und greifbarer als die Wirklichkeit selbst.

Den Wahnsinn benennen: Der Mut zum eigenen Verstand

Doch dieser Rückzug ins Virtuelle ist kein sicherer Hafen. Er ist ein Freibrief für jene, die mit menschlichen Schicksalen wie mit Spielfiguren agieren – sei es ein Trump, ein Netanyahu oder ein Elon Musk, der aus einer Laune heraus politische Parteien gründet. Die Wirklichkeit lässt sich nicht wegklicken. Sie schlägt zurück mit lebensbedrohender, vernichtender, existenzieller Wucht. Aber sie trifft nicht jene, die sich in ihren bunt angemalten Villen verschanzen. Sie trifft die Verletzlichsten. Was also tun? Wie können wir diesen kollektiven Wirklichkeitssinn reaktivieren?

Die erste und vielleicht wichtigste Aufgabe ist es, den Wahnsinn als solchen zu benennen. Wieder und wieder. Die Perversion der Sprache muss entlarvt, die Lüge als Lüge bezeichnet werden. Es geht darum, die Deutungshoheit zurückzuerobern. Es muss wieder als normal gelten, empört zu sein, abzulehnen, aufzustehen und mit unmissverständlicher Klarheit „Nein!“ zu sagen. Diese Verantwortung liegt insbesondere bei jenen in Politik und Medien, die noch über Haltung und Format verfügen. Wo sind sie, jene, die Trump und Netanyahu nicht den roten Teppich ausrollen, sondern ihnen die Tür weisen? Es gibt sie, aber sie sind skandalös wenige.

Letztlich aber beginnt der Widerstand im Kleinen, im Individuellen. Bürgerinnen und Bürger können und müssen jene wählen, die Menschenrechte verteidigen und sich dem Sog des virtuell-realen Spiels verweigern. Es geht darum, hinter die immer neuen, bunten Anstriche der Pippi-Langstrumpf-Häuser zu blicken und die bröckelnde Bausubstanz zu erkennen. Der Philosoph Immanuel Kant fasste den Leitspruch der Aufklärung in zwei Worte: Sapere aude! – „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Dieser Appell war nie dringender als heute. Es ist der Mut, der Realität ins Auge zu sehen, auch wenn sie schmerzt. Der Mut, dem Spektakel zu misstrauen und die eigene Urteilskraft zu aktivieren.

Sapere aude! – Jetzt.

Zurück
Zurück

Was macht/kann die Philosophische Praxis?

Weiter
Weiter

Die Reise beginnt: Was heißt es eigentlich, mit Kindern zu philosophieren?