DAS ENDE DES SOZIALEN UND DER SIEG DES EGOISMUS

Menschen stürmen dieser Tage die Teststraßen im ganzen Land. Die Wochen zuvor, als die Regierung um rege Beteiligung an eben solcherlei Massentests bat, blieben die Hallen leer. Die Enttäuschung im Land war groß. Die spärliche Beteiligung an den Tests und die damit verbundenen Erkenntnisse für die Regierenden in Bezug auf die Zahlen kann aus der Perspektive einer solidarisch funktionierenden Gesellschaft nur als Katastrophe empfunden werden. Was steckt hinter diesem verkehrten Bild? Warum stehen Menschen jetzt, kurz vor Weihnachten, stundenlang in der Schlange, wenn es aber um einen Solidarakt geht, dann bewegt sich niemand aus dem Haus?

Gabriele Scherndl argumentiert in einem Kommentar im Standard, dass sich an diesem Verhalten die Eigenverantwortung und Entscheidungsfreudigkeit der Menschen zeigen würde (Kommentare, 22.12.2020). Mehr noch, es würde sich zeigen, dass Menschen schon das Richtige machen würden, wäre es nur gut argumentiert. Sie ruft die Regierung auf doch jedem Einzelnen tatsächlich klar zu machen, was er oder sie davon hätte und nennt dies dann Altruismus? Da geht offensichtlich einiges schief in dieser Deutung.

Dass sich Menschen nur testen lassen, weil sich das Ergebnis auf die Feier im engsten Familienkreis auswirkt, ist definitiv ein egoistisches Motiv. Soziales Verhalten und Altruismus kann sich nicht auf den Kern der Familie beschränken, sonst wären alle rechtspopulistischen und rechtsradikalen Parteien sozial. Solidarisches Verhalten zeigt sich auch nicht in Win-Win-Situationen - im Gegenteil! Erst, wenn es uns etwas kostet, wenn wir selbst nichts dadurch gewinnen, können wir prüfen, ob wir auch für andere handeln und uns motivieren lassen. Dass sich also nur wenige Menschen an den ersten Massentests beteiligten, ist leider ein eindeutiges Zeichen für den Verlust von Sozialität und Solidarität. Wenn der Staat, der wir selbst sind, von uns etwas braucht, wird es verweigert, weil wir uns eben nicht mehr als Gemeinschaft verstehen. Nur wenn das Individuum profitiert, kommen wir ins Handeln. Das ist die Lehre, die wir ziehen müssen.

Gabriele Scherndl findet, das ist ein gutes Zeichen. Gut, überlegen wir weiter: Heißt dies, wir müssen warten bis der Klimawandel sich für jeden Einzelnen als negativ erweist und wir jedem Einzelnen klar machen können, was er oder sie konkret davon hätte, wenn er oder sie sich anders verhielte? Heißt dies, wir müssen warten, bis jeder Einzelnen einen Schaden davon trägt, dass Kinder im Schlamm von Kare Tepe von Ratten gebissen werden, bevor wir uns dazu entschließen, Menschen ihr Recht auf Asyl zu gewähren?

Hier ist einiges schief gegangen in der Vorstellung von Gemeinschaft. Wenn Aristoteles vom zoon politikon, vom Wesen des Menschen als ein soziales, als eines, das bereitwillig und gern einen Beitrag zu Gesellschaft leistet, dann war nicht gemeint: „nur, wenn ich selbst davon profitiere“. Nicht einmal der Gründervater des Liberalismus und Verteidiger der individuellen Freiheit, John Stuart Mill, hätte für einen solchen Egoismus plädiert, hat er sich doch im England des 19. Jahrhunderts für Arbeiter*innen- und Frauenrechte eingesetzt.

Wenn wir in dieser Art und Weise weiter machen, dann bleibt nichts anderes übrig, als auf autoritäre Weise für das Wohl des Ganzen zu sorgen. Wenn sich niemand solidarisch impfen lässt, dann kann das Impfen nur verordnet und anhand von Pässen überprüft werden. Wenn niemand etwas opfern möchte und bereitwillig verzichtet, dann können ökologische Ziele nur mehr durch eine Ökodiktatur erreicht werden. Dann braucht sich auch niemand mehr über autoritäre Wenden in ganz Europa wundern. Wollen wir das? Wenn nein, dann müssen wir uns erneut fragen: Wer sind wir? Was für eine Art von Gemeinschaft wollen wir sein? Und wenn wir eine Antwort darauf gefunden haben, dann müssen wir auch entsprechend ins Handeln kommen.

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(SOZIALE) MEDIEN IN DER KRISE? FUNKTION UND KRITIK

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