CORONA II: WARUM WIR UNS VOR DER "NEUEN NORMALITÄT" HÜTEN SOLLTEN

Die österreichische Regierung pflegt seit Beginn des Ausbruchs von Covid-19 einen sehr eigenen Umgang mit dem Krisen-Thema. Die gesetzten Maßnahmen, die hier nicht beurteilt werden sollen, werden begleitet von einem Diskurs, der sich von anderen europäischen politischen Diskursen abhebt. Von Beginn an wurde ein starkes, wir könnten fast sagen Angst erzeugendes, Vokabular gewählt: „Wir werden alle jemanden kennen, der an Corona verstorben ist“ (frei nach Sebastian Kurz).

Spätestens seit Wittgenstein wissen wir, dass Sprache unsere Wirklichkeit konstruiert. Sprechen, Fühlen und Handeln gehen Hand in Hand. Die Kombination aus Sprechen und performativer Praxis fixiert Bedeutungen und unsere Interpretation von den Dingen. Unser gesamtes Verhältnis zu Welt, Mensch und uns selbst ist von diesen Bedeutungskonstruktionen abhängig.

Ein Beispiel: Wenn ich mit einem Welt- und Menschenbild sozialisiert wurde, das ähnlich wie bei Thomas Hobbes davon ausgeht, dass der Mensch dem Menschen zunächst ein Wolf ist, dass es den Einzelnen primär um ihr eigenes Überleben geht, werde ich mich Menschen gegenüber anders verhalten, als wenn der Gemeinsinn und der Anspruch aller zu Gemeinschaft etwas beitragen zu wollen (z.B. Aristoteles’ zoon politikon) den Hauptaspekt meines Menschenbildes ausmacht. Die Diskurse also, die wir innerlich führen, die sowohl kulturell, sozial als auch individuell entstanden sind, sind auch verantwortlich für unsere Wahrnehmung, Empfindung und Interpretation dieser Welt.

Was versucht nun der Begriff „neue Normalität“ zum Ausdruck zu bringen und schlussendlich mit uns zu machen? Was ist das Ziel (falls beabsichtigt) oder was könnte Ergebnis (falls unbeabsichtigt) dieser Formulierung sein?

Die Absurdität des Begriffs

Fragen wir uns doch einmal genauer: kann es eine neue Normalität geben? Was heißt Normalität?

Normal ist, was sich etabliert hat, was meist nicht heraussticht, was selbstverständlich geworden ist. Was normal ist, fällt meist erst dann auf, wenn die Ausnahme in Erscheinung tritt. Was also vor Covid normal war, wie unser Alltag strukturiert war, wurde erst durch die Vehemenz des abrupt auftretenden Ausnahmezustands offensichtlich. Wir machen uns immer nur Gedanken über die Normalität, wenn sie unterbrochen wird, ansonsten wird sie einfach gelebt. Normalität weist so auch eine gewisse Dauer auf. Sie lebt von Wiederholung. Sie ist ein Zustand, der weder einen erkennbaren Anfang noch ein Ende hat. Sie passiert unbewusst und kann daher auch nicht eingeführt werden.

Das Wort „neu“ in diesem Zusammenhang zu verwenden, mutet eigenartig an. „Neu“ kann nur die Ausnahme sein, etwas, das hereinbricht. Normalität ist weder alt noch neu. Hier werden also zwei Begriffe zueinander gestellt, die in Wirklichkeit für nichts anderes stehen als ein politisches Programm. Über das Begriffskonglomerat wird versucht, der politischen Debatte über den Inhalt aus dem Weg zu gehen.

Was ist also Inhalt dieses politischen Programms?

Angst vor den Anderen

Wenn der Begriff überhaupt in seiner Anwendung einen Sinn haben soll, dann muss es darum gehen, was das Neue ist, das er herbeiführen soll. Dass wir zum Großteil zu dem zurückkehren wollen, was vorher als „normal“ galt, ist relativ selbstverständlich, auch wenn wir natürlich darüber diskutieren müssten, ob das ehemals „Normale“ tatsächlich das Gute war.

Wir wenden unseren Blick also auf das Neue. Neu soll sein, wie wir uns zueinander verhalten: die Abstandsregel, die Maske in geschlossenen Räumen, die Versammlung nur weniger selbst im Freien (Verbot von Großveranstaltungen) und gewisse Hygienemaßnahmen. Normen, Regeln, Gesetze schreiben sich mit der Zeit in uns ein und werden irgendwann, wenn oft gelebt und wiederholt, tatsächlich zur Normalität. In dieser neuen Welt würden wir also andere prinzipiell als potentielle Gefahr empfinden. Wir tendieren jetzt schon dazu, einen Satz nach hinten zu machen, im Falle dass jemand auch nur andeutet, uns berühren zu wollen.

Wie oben bei den Welt- und Menschenbilder erwähnt, wird das neue Menschenbild eines sein, das unser Gegenüber als die Quelle einer Lebensbedrohung identifiziert. Der Atem als Todesbringer. Die Angst wird so die Triebkraft unseres Weltverstehens. Der Virus kann potenziell überall und immer auftreten, ist zudem unsichtbar und es kann ihm nur über das Entfernen der anderen aus meiner Welt begegnet werden.

Die Maske

Die Maske verstärkt ebenso, was die zunehmend digitale Kommunikation schon mit sich brachte: wir werden verlernen Gestik und Mimik entschlüsseln zu können. Es gibt bereits Studien die vermuten lassen, dass Jugendliche aufgrund ihrer vermehrt digitalen Kommunikation verlernt haben, das Gesicht anderer lesen zu können. Was wird passieren, wenn wir mit der Maske mehr und mehr sozialisiert werden? Zu wie vielen Missverständnissen wird es kommen oder werden wir uns grundsätzlich in einen emotionslosen Raum zurückziehen? Uns die Arbeit der Interpretation des Gegenübers gar nicht mehr antun?

Kontrolle

Ein weiterer Aspekt der neuen Normalität soll die Kontrolle darstellen. Kurz-Beraterin Antonella Mei-Pochtler verkündete, Contact-Tracing über das Handy würde ein fixer Bestandteil der neuen Normalität werden. Überwachung und vollständige Transparenz unseres Handelns soll also Teil dieses Zukunftsentwurfs werden. Und nein, das Argument „eh schon egal“ zählt nicht. Darf denn ein solch gravierender Eingriff seitens des Staates überhaupt ohne öffentliche Deliberation, ohne demokratisch legitimierten Prozess, der nicht nur dem Anspruch des Verwaltens seitens der Regierenden, sondern tatsächlich der Partizipation der Bürger*innen genüge tut, vorgenommen werden? Heißt dies nicht auch, dass es Teil der neuen Normalität sein sollte, dass Entscheidungen autoritär statt demokratisch getroffen werden dürfen, um es spitz zu formulieren?

Das Problem ist, dass die absolute Transparenz der Bürger*innen ihre Freiheit einschränkt. Schon die Architektur der Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die breiten Straßen von Paris zum Beispiel, dienten dazu, nach den Erfahrungen mit der französischen Revolution über die Durch- und Einsicht in jeden Winkel der Stadt, ein sich Versammeln und konspiratives Verhalten zu verunmöglichen. Transparenz dient also immer der Kontrolle. Und Kontrolle soll politischen Widerstand verhindern.

Konsequenz: Leibfeindlichkeit?

Hygiene, körperliche Distanz und Maske: all das verweist auf Regulierungen des Körpers. Wir wollen andere so wenig wie möglich mit unserem Körper und seinen Ausscheidungen konfrontieren und wollen auch möglichst wenig vom Anderen berührt werden. Nun stellen wir - nach der langen Phase der religiös motivierten Leibfeindlichkeit - schon in den letzten Jahrzehnten fest, dass aufgrund der fortschreitenden Technologisierung und transhumanistischen Versuchen den Körper mehr und mehr zur unangreifbaren Maschine zu machen, Körperlichkeit suspekt wird oder wir zumindest versuchen sie zu überwinden. Die Diskussion darüber würde an dieser Stelle zu weit führen.

Auf jeden Fall können wir aber feststellen, dass der erwünschte neue Normalzustand einen erheblichen Beitrag zu einer neuen Leibfeindlichkeit leisten wird.

Im Namen der Gesundheit und des Lebens

Die Crux ist nun, dass niemand es wagen kann gegen das Überleben zu argumentieren. Die Gesundheit und das Überleben, das Lebenretten, stehen über allen anderen Werten. Natürlich bedient sich dieser Diskurs auch unserer Angst vor der Schuld. Wer will Schuld haben am Tod der anderen? „Überleben“ ist wie eine Trumpfkarte. Alles muss sich dieser Karte unterordnen. Aus einer philosophiegeschichtlichen Tradition heraus müssten wir aber sehr wohl fragen: reicht es irgendwie zu LEBEN, oder geht es auch darum, WIE wir leben wollen? Diese Diskussion lässt sich momentan kaum führen. Verständlicherweise gibt es zu viele Schicksale, die in ganz unterschiedlichem Maß betroffen sind.

Es gab und gibt aber auch Menschen, die sich gegen Maßnahmen wehren, obwohl sie einer Risikogruppe angehören, weil sie nicht nur allein und verlassen Dahinvegetieren wollen, sondern auf die Aspekte des guten Lebens nicht verzichten möchten. Das Problem ist, dass wir in dieser Situation nichts nur für uns allein entscheiden können, sondern dass wir immer auch für andere entscheiden, weil sie mit betroffen sind. Ähnlich dem Passiv-Rauchen - aber auch dafür haben wir lange gebraucht, um uns gegen die Freiheit der Einzelnen und für die Gesundheit vieler zu entscheiden.

Zentral ist und bleibt, dass es einen Prozess des Aushandelns und des Dialogs geben muss, bevor solche Entscheidungen getroffen werden können.

Alternative? - Demokratie auf dem Prüfstand

Dies ist sie also: die Stunde der Demokratie! Jetzt, in diesem Ausnahmezustand, der immer noch einer ist und auch als ein solcher bezeichnet werden sollte, zeigt sich, wie unsere Demokratie im Kern beschaffen ist. Jetzt, da manche mit den höchsten Kategorien, die über allem stehen: Tod oder Leben argumentieren, muss sich unser demokratisches System beweisen. Wie viel Anteil hat tatsächlich der demos (das Volk) am Regieren? Wer hat das Recht zu sprechen, wer spricht realiter? Wer wird gehört? Wie viel Entscheidungsmacht und -kompetenz sprechen wir uns selbst zu? Darf und sollte ausschließlich die Wissenschaft oder ihre Instrumentalisierung durch politische Entscheidungsträger*innen regieren? Ist ein alternativer Diskurs möglich?

Ja, er wird auch geführt. Andere europäische Staaten führen andere Diskurse. Angela Merkel bleibt bei der Ausnahme dieser besonderen Situation und weist auf die demokratiepolitischen Gefahren dieser Krise hin. Schweden diskutiert darüber, ob Maßnahmen auch je nach Betroffenheit individuell geregelt werden können. Der österreichische Diskurs bringt vor allem eines zum Vorschein, nämlich was die aktuellen Entscheidungsträger*innen unter Politik und Regieren verstehen.

Ein alternativer Diskurs könnte auch darüber geführt werden, was wir nicht mehr wollen. Der Ausnahmezustand lässt uns erkennen, wo es an der Normalität gekrankt hat. Wir könnten in Vorbereitung auf erneute Krisen über ein bedingungsloses Grundeinkommen sprechen, über neue Arten und Weisen des Arbeitens und des Zusammenlebens. All das wird nicht getan. Immer noch geht es nur um Schadensbegrenzung und eine große Chance wird dabei verpasst. Warum? Weil es den derzeit Regierenden weniger um die Zukunft geht als um Performanz und Machterhalt. Und Wahlen ließen sich leider noch nie über einen breit angelegten normativen Diskurs und die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen, gewinnen. Aber vielleicht sollten wir genau das ändern.

Was bleibt zu tun? Wachsam bleiben, kritisch, unbequem und dialogisch.

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DAS ENDE DES SOZIALEN UND DER SIEG DES EGOISMUS

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